Geol. Jb. A 120 271-279 2 Taf. Hannover 1991 Erster Nachweis eines Rudisten (Durania mortoni (MANTELL 1833» aus der Mittelkreide von Helgoland JOACHIM REITNER Rudistae (Radiolitidae), Mittel-Kreide, Paläoökologie, Flachwassermilieu, pelagisches Milieu, mariner Transport Nordwestdeutsches Flachland,lHelgoland, Schleswig-Holstein, Nordsee Kurzfassung: Aus der Mittelkreide (? Ober-Cenoman -Santon) von Helgoland wird ein Lesefund eines Radioliten der Art Durania mortoni (MANTELL 1833) beschrieben. Es handelt sich um ein Bruchstück der fixen rechten Schale. Radioliten dieser Gruppe sind relativ häufig in der Mittleren Kreide von England. Die Schalen sind in der Regel unvollständig und eingebettet in pelagische Sedimente. Aufgrund der für die Radioliten charakteristischen porösen Schale wird ein zeitlich längeres Driften angenommen. Dies erklärt die Seltenheit dieser Mollusken in der "borealen" pelagi. schen Oberkreide. Radioliten sind typische Bewohner des warmen Flachwassers (photische Zone). [First evidence of a rudist (Durania mortoni (MANTELL 1833» from the Mid-Cretaceous of Helgoland] Abstract: From the Mid-Cretaceous of Helgoland a broken and transported radiolitid bivalve is reported. Preserved is apart of the right fix valve of Durania mortoni (MANTELL 1833). This type of rudists is widespread in Mid·Cretaceous "boreal" rocks, expecially of England. The valve is embedded in pelagic sediments far away from their orginal coastal habitat. These organisms prefer habitats of warm and clear shallow waters within photic conditions. The characteristic porous valve structures are responsible for a long time drifting on the water surface before falling down to the seabottom. [premiere decouverte d'un rudiste (Durania mortoni (MANTELL 1833» dans le Cretace moyen de Helgoland] Resurne: Description d'une decouverte isolee d'un radiolite appartenant a l'espece Durania mortoni (MANTELL 1833) dans le Cretace superieur (? Cenomanien superieur-Santonien) de Helgoland. Il s'agit d'un fragment de valve dorite fixee. Les radiolites de ce groupe sont relativement abondants dans le Cretace moyen d'Angleterre. Les coquilles sont generalement incompletes et fossilisees dans des sediments pelagiques. En se basant sur la porosite de la coquille, si caracteristique des radiolites, nous admettons une flottaison postmortem tres longue qui expliquerait la rarete de ces mollusques dans le Cretace superieur pelagique «boreal». Les radiolites sont des habitants typiques d'eaux peu profondes et chaudes (zone photique). [ßep08l1 H8XOl\K8 PYI\HCT8 (Durania mortoni (MANTELL 1833» 0 oepXHeM MeJlY 0-03 reJlbroJl3Hl\3] P e 310M e: OnllcaHa 1130JlllpOOaHHall HaXOI\Ka pal\1I0JlIITa BII/la DUTania mOTton; (MANTELL 1833) 113 oepXHero Mena (? oepXHllii ceHoMaH -caHToH) o·oa renbrOnaH/la. Pe'lb IIl\eT 0 q,parMeHTe Hapocweii npasoii paKOOHHhl. Pa/lllo, nHThI 3TOii rpynnbI SCTpe'laIOTCll cpasHIITenbHo 'IaCTO 0 Cpe/lHeM Meny AHrnllll. PaKoOIIHhI , KaK npaSHno , coxpaHeHhI He 0 nonHoM 06."eMe 11 norpe6eHhI 0 nenarll'leCKlle OCa/lKII. Ha OCHosaHlI1I npllcYTCTBlIlI xapaKTepHoii /lnll pa/lllOnllTOs nop"cToii paKoolIHhI npe/lnOnaraeTclI np0l.\ecc /lnllTenbHoro /lpeiiq,a . 3TIIM 11 06."lICHlieTClI pe/lKOCTh 3TIIX MonnlOCKOB B «6opeaJIbHOM» neJIanflieCKOM sepxHeM MeJ1Y. Pa,o:HOJIHTbl SlBJISlIOTCSI THnlP-IHbIMH o6HTaTeJISlMH TenJIOrQ MeJIKOBOAbSl (30q,oTII'IeCKall 30Ha). Anschrift des Autors: Dr. J. REITNER, Institut für Paläontologie, Freie Universität Berlin, Schwendener Straße 8, D-I000 Berlin 33 Inhaltsverzeichnis Seite 1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 2 Fundumstände und Stratigraphie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 3 Systematik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 3.1 Beschreibung einer Durania mortoni (MANTELL) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 4 Bemerkungen zur Biostratinomie .........,. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 5 Palökologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 6 Schriftenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 1 Einleitung Rudisten aus der sogenannten "borealen" Oberkreide des nördlichen Zentraleuropa sind selten, abgesehen von Fundstellen, bei denen entsprechende küstennahe Environments aufgeschlossen sind. Zu erwähnen sind die südschwedischen Campan-Aufschlüsse bei Ivö (LUNDGREN 1870, SCHMID 1975) und des Sudmerberges (Santon) am nördlichen Harzrand (MÜLLER 1890). Aufgrund der Seltenheit dieser Organismen, ihrer taphonomischen und palökologischen Aussagekraft ist es notwendig, jeden Fund zu dokumentieren. 2 Fundumstände und Stratigraphie Bei dem vorliegenden Stück (Slg. STÜRMER, Nr. Helg. 74) handelt es sich um einen Lesefund von der der Insel Helgoland vorgelagerten Düne ohne unmittelbare Zuordnung zum Muttersediment. Aus dem anhaftenden Sediment wurde von Herrn Dr. CEPEK (Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe) eine Mikroflora (Coccolithen) bestimmt, deren Assoziation auf eine biostratigraphische Einstufung von Ober-Cenoman bis Santon zuläßt (Mittelkreide). 3 Systematik Familie Radiolotidae GRAY Durania mortoni (MANTELL 1833) (Ausführliche Synonymie in WOODS 1913 und KÜHN 1932) 1833 Hippurites Mortoni, MANTELL; S. 130 1913 Durania Mortoni; WOODS; S. 420 ff. 1932 Durania mortoni; KÜHN; S. 107 1949 Durania mortoni; KÜHN; S. 277 ff. 3.1 Bes chreibung einer Durania mortoni (MANTELL) Das vorliegende Exemplar einer Durania mortoni aus der Mittelkreide von Helgoland (Taf. 1 Fig. I, 2, 3) liegt als Bruchstück der fixen Schale (rechte Schale) vor. Das Bruchstück hat eine Höhe von 5,6 cm, eine obere Breite von 6,2 cm und eine untere Breite von ca. 3,2 cm. Der obere Rand ist 1,9 cm dick, der untere 0,7 cm. Das proximale sowie das distale Ende der Schale ist nicht erhalten. Die Innenseite der Schale ist glatt, zeigt allerdings 13 mm unterhalb des inneren Randes einen horizontalen Wulst. Die Innenseite der Schale ist mit kleinen Austern bewachsen (Taf. 1 Fig. 2). Die Außenseite der Schale zeigt deutlich markante Längsrippen, die wiederum durch feine Rippen strukturiert sind. Der rechte Teil der Schale zeigt eine Deformation, so daß die Längsrippen nicht mehr ausgebildet sind. Die Außenschale ist durch Mikrobohrer angebohrt. Die Schale zeigt die charakteristische Struktur der Radiolitidae. Es lassen sich deutliche radiäre Leisten erkennen, die sehr regelmäßige Anwachsmuster darstellen. Die typische schwammartige Wabenstruktur der Schale ist irregulär. Die Hohlräume sind nur unvollständig zementiert. Im äußeren Randbereich sind die Wabenporen signifikant kleiner als im Zentrum der Schale. Der äußere und der innere Schalenrand zeigt eine orthogonalJ prismatische Struktur. Die Schalenmineralisation ist kalzitisch. 4 Bemerkungen zur Biostratinomie Rudisten sind in den nördlichen kretazischen Epikontinentalmeeren selten und auf die Oberkreide beschränkt. Es werden überwiegend Vertreter der Radiolitidae beobachtet (z. B. ROEMER 1865, MÜLLER 1890, WOODS 1913, LUNDGREN 1870, SCHMID 1975). In der zusammenfassenden Arbeit über boreale Rudisten von KÜHN (1949) werden Caprinidae aus der böhmisch/sächsischen Oberkreide und Hippuritidae aus dem Maastricht der Typlokalität erwähnt. Relativ häufig sind kleine Radiolitidae der Gattung Agriopleura und verwandte Formen im Campan von Südschweden (Ivö) (LUNDGREN 1870 und eigene Aufsammlungen) sowie aus dem Santon des Sudmerberges am nördlichen Harzrand (MÜLLER 1890). Beide Vorkommen lieferten relativ vollständige Exemplare, im Gegensatz zu den Einzelfunden aus Misburg (SCHMID 1975 und Neufund des Autors), England (Taf. 2 Fig. 1, 2) (mündl. Mitt. P. SKELTON) und dem hier vorgestellten Exemplar, die allerdings überwiegend zur Gattung Durania gehören. Der porige Charakter der Radioliten-Schale erlaubte ein längeres Driften an der · Wasseroberfläche, so daß die Schalen küstenfernere Bereiche erreichten, bevor sie absanken. Belegt wird diese Annahme durch die Besiedelung der Schalen durch kleine Austern und Cirripediern, die am vorliegenden Stück und weiteren Exemplaren aus dem British Museum (Nat. Hist) beobachtet wurden. Bei gekammerten Cephalopoden wird dieses Drift-Phänomen häufiger beobachtet (Nautilus, Spirula). Dem Autor liegen "Belemniten-Flöße" aus dem Solnhofener Plattenkalk vor, die mit Austern bis zu einer Größe von 1 cm besiedelt wurden, bevor sie absanken. Es werden von Rudisten nur Reste von Radioliten-Schalen in den "borealen" pelagischen küstenfernen Sedimenten gefunden, ein Hinweis auf das spezielle biostratinomische Verhalten dieser Schalen. Bei dem vorliegenden Stück handelt es sich um ein allochthones Exemplar. Vermutlich wurden die Schalen durch Stürme losgerissen und verdriftet. 5 Palökologie Rudisten sind ein Monophylum von Lamellibranchiaten, das sich speziell an flaches, tropisches Warmwasser adaptiert hat (PERKINS, 1974, REITNER 1987 u. v. a.). Ivö und Sudmerberg stellten solche flachmarinen Biotope dar, die außerdem charakterisiert sind durch andere flachmarine Organismen, wie zum Beispiel coralline Rotalgen (Archaeolithothamnium), Bryozoen, seltene Skleractinier und coralline Spongien (z. B. Neuropora und pharetronide Calcarea). Die Rudisten waren in diesen Fällen Teil einer nicht rezifalen Organismengemeinschaft des warmen Flachwassers. Bei den Radiolitidae liegt der Mantel aufgrund der sehr dicken fixen Schale und einer sehr kleinen Operculum-artigen freien Schale (linke Schale), die nicht vollständig die fixe Schale bedeckt, teilweise frei, so daß eine Symbiose mit Algen im Mantel sehr wahrscheinlich ist (SEILACHER 1976, SKELTON 1979, VOGEL 1975 ). Diese Rudisten sind auf die photische Zone beschränkt und stellen damit eine palökologisch hervorragend verwertbare Gruppe von Organismen dar. Insbesondere die Gattung Durania zeigt eine derartige Schalenmorphologie. Eine vergleichbare Symbiose und eine damit verbundene Abhängigkeit vom Licht wird bei der großen Riff-Muschel Tridacna in modernen pazifischen Riffen beobachtet (MCMICHAEL 1974). Die schwammähnliche Schalenstruktur der Radiolitidae verhinderte vermutlich eine intensive Anbohrung durch endolithische Mikroorganismen, Bohrschwämme sowie bohrende Mollusken. In der "borealen" Oberkreide werden allgemein keine Buildups von Rudisten, wie sie häufig in den mediterranen Tethys-Bereichen auftreten, beobachtet. Allerdings muß davon ausgegangen werden, daß die sog. "boreale" Oberkreide kein ausgesprochen kühles Meer gewesen ist, wie auch aus anderen palökologischen und sedimentologischen Parametern hervorgeht (VOIGT 1964, MICHAEL 1979, REITNER 1989). Möglicherweise war Durania mortoni auch an nicht tropische, vermutlich mediterrane, Environments angepaßt. 6 Schriftenverzeichnis KÜHN, O. (1932): Rudistae. Fossilium Catalogus I. Pars 54. -2000 S.; Berlin. -(1949): Stratigraphie und Paläogeographie der Rudisten. V. Die borealen Rudistenfaunen. -N. Jb. Miner. Geol. Paleont., Abh., 90, Abt. B: 267 -316; Stuttgart. LUNDGREN, B. (1870): Rudister i Kridtformationen i Sverige. -Lunds Univ. Arsskr., 6: 1-12; Lund. MCMICHAEL, D. F. (1974): Grow rate, population size and mantle coloration in the small gigant clam Tridacana maxima (RODING), at One Tree Island Capricorn Group, Queensland. -Proc. Sec. int. Coral Reef Symp., 1, Barrier Reef Committee: 241-254; Brisbane. MICHAEL, E. (1979): Mediterrane Fauneneinflüsse in den borealen Unterkreide-Becken Europas, besonders Norddeutschlands. -In: WIEDMANN, J. (Hrsg.): Aspekte der Kreide Europas. -lUGS sero A., 6: 305-321; Stuttgart. MÜLLER, G. (1890): Die Rudisten der Oberen Kreide am nördlichen Harzrande. - Jb. königl. preuss. geol. L.-A.: 137-148; Berlin. PERKINS, B. F. (1974): Paleoecology of a Rudist reef complex in the Comanche Cretaceous GIen Rose Limestone of Central Texas. -Geoscience and Man, 8: 131-173; Austin. REITNER, J. (1987): Mikrofazielle, palökologische und paläogeographische Analyse ausgewählter Vorkommen flachmariner Karbonate im Basko-Kantabrischen Strike Slip Fault-Becken-System (Nordspanien) an der Wende von der Unterkreide zur Oberkreide. -Documenta Naturae, 40: 1-239; München. (1989): Lower and Mid-Cretaceous Coralline Sponge Communities of the Boreal and Tethyan Realms in Comparison with the Modern Ones. -Palaeoecologial and Palaeogeographic Implications. -In: WIEDMANN, J. (Ed.): Cretaceous of the Western Tethys. -Proc. 3rd int. Cretaceous Symposium, Tübingen 1987: 851-878; Stuttgart (Schweizerbart). ROEMER, F. A. (1865): Die QuadratenIITeide des Sudmerberges bei Goslar. -Palaeontographica, 13: 193-199; Cassel. SCHMID, F. (1975): Erster Fund des Hippuriten Agriopleura suecica (LUNDGREN) im nordwestdeutschen Ober-Campan (Misburg bei Hannover). -Ber. naturhist. Ges., 119: 303-313; Hannover. SEILACHER, A. (1976): Photosymbiontische Muscheln. -In: SEILACHER, A. & SEILACHER, E. (Hrsg.): Paläontologie. -Zentralbl. Geol. Paläont., 1976, 11: 303-305; Stuttgart. SKELTON, P. (1979): Preserved ligament in a radiolitid rudist bivalve and its implication of mantle marginal feeding in the group. -Paleobiology, 5: 90-106; Ithaca, N. Y. VOGEL, K. (1975): Endosymbiontic algae in rudists? -Palaeogeogr. Palaeoclimat. PalaeoecoL, 17: 327-332; Amsterdam. VOIGT, E. (1964): Zur Temperatur-Kurve der oberen Kreide in Europa. -GeoL Rdsch., 54: 270-317; Stuttgart. W OODS, H. (1913): A Monograph of the Cretaceous Lamellibranchia of England. 11, 9. - Palaeontogr. Soc., 1912: 341-473; London. Tafel! Maßstab: 1 cm. Fig. 1: Außenseite der rechten (fixen) Schale von Durania mortoni (MANTELL) mit deutlichen Längsrippen von Helogland. Fig. 2: Innenseite von D. mortoni mit erkennbaren Querwülsten und Austernbewuchs. Fig. 3: Aufsicht auf die fixe Schale mit deutlich erkennbarer irregulärer primärer Schalenporosität. An den Rändern sind die Schalenporen signifikant kleiner. 277 Tafel 2 Maßstab: 2 cm. Fig. 1: Aufsicht auf die nahezu vollständige rechte (fixe) Schale von Durania mortoni (MANrELL) aus dem Cenoman des Lower Chalk von Folkestone (Kent) (British Museum Nat. Hist. Nr. L. 26397). Der obere nicht poröse Schalenrand ist erhalten. Fig. 2: Seitenansicht der fixen Schale mit deutlichen Längsrippen. Das Exemplar besitzt einen stumpf-kegeligen Habitus. 279